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Warum ist Alpha so selten, wenn so viele Wege dorthin bekannt sind?


05.05.23 12:32
ETHENEA

Munsbach (www.fondscheck.de) - Der Artikel "ChatGPT Can Decode FED Speak, Predict Stock Moves From Headlines"1 war im April einer der meistgelesenen Beiträge auf dem Finanznachrichtenportal Bloomberg, so Christian Schmitt, Senior Portfolio Manager von ETHENEA Independent Investors S.A.

Auf Deutsch: ChatGPT könne FED-Reden entschlüsseln und Aktienbewegungen anhand von Schlagzeilen vorhersagen. Künstliche Intelligenz im Allgemeinen sowie der Chatbot ChatGPT im Speziellen seien weiter die Themen der Stunde. Die unermüdliche Suche nach Überrenditen, den so genannten Alpha - Erträgen, die über die mit dem Marktrisiko (Beta) zu erwartenden Erträge hinausgehen würden - sei dagegen ein Dauerthema, das seit Jahrzehnten nahezu alle Finanzmarktteilnehmer umtreibe. So sei es keine Überraschung, dass ChatGPT und andere vergleichbare Sprachmodelle mittlerweile auch für diese Zwecke eingesetzt würden. Eine der ersten wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema, auf die sich der zweite Teil der oben zitierten Bloomberg-Überschrift beziehe, stelle in ihrem Titel die spannende Frage: "Can ChatGPT Forecast Stock Price Movements?"2. Könne ChatGPT Aktienkursbewegungen vorhersagen? Die kurze Antwort laute: Ja. Zumindest auf Sicht eines Tages.

Die Studie selbst sei schon deshalb lesenswert, um ein Gefühl für die Formulierung der notwendigen Eingabeaufforderungen bei ChatGPT zu bekommen - in etwa: "(…) Tu so, als wärst Du ein Finanzexperte. Du bist ein Finanzexperte mit Erfahrung im Bereich Aktienempfehlungen. Beantworte (…)" - oder interessante Einblicke in die hochstandardisierten Datensätze zu Preisbewegungen und vor allem Nachrichtenmeldungen zu erhalten, die solche Studien erst möglich machen würden. In diesem Beitrag solle es aber weniger um die konkreten Backtesting-Ergebnisse aus der Studie gehen (es würden sicherlich im Laufe der nächsten Monate und Jahre noch viel spektakulärere Ergebnisse zu vernehmen sein), sondern um eine allgemeinere Einordnung. Welchen unmittelbaren Nutzen könnten Anleger oder ETHENEA als Fondsgesellschaft aus den neuesten Erkenntnissen ziehen?

Eine Vermutung: In etwa den gleichen Nutzen, den Anleger, Fondsgesellschaften und alle anderen Anleger aus den über 400 (!) wissenschaftlich belegten Faktoren für Überrenditen gezogen hätten, die bis zum Jahr 2019 in Fachzeitschriften dokumentiert worden seien. Eine entsprechend umfangreiche Liste3 mit einer Übersicht aller Publikationen hätten die beiden Wirtschaftswissenschaftler Campbell R. Harvey und Yan Liu zusammengestellt. Dort würden sich die einzelnen Faktoren bei Interesse nochmals detailliert nachschlagen lassen.

Zugegeben, nach einigen Jahren Kapitalmarkterfahrung falle es nicht leicht, ohne ein Augenzwinkern über die Vielzahl möglicher Quellen von Überrenditen zu sprechen. Alpha sei schon immer ein sehr zartes Pflänzchen und zudem sehr vergänglich gewesen. Und das werde auch so bleiben. Daran würden auch Neuentdeckungen vermeintlicher Alphaquellen nichts ändern, die unter anderem durch die verbesserten technischen Möglichkeiten zuletzt exponenziell zugenommen hätten. Auch hierzu würden bereits entsprechende Studien existieren, die eine stark abfallende Wirkung solcher Alpha-Charakteristika nach dem Zeitpunkt der Veröffentlichung belegen würden. Eine gute Übersicht hierzu biete die 2015 erschienene Arbeit "Does Academic Research Destroy Stock Return Predictability?"4. Dort werde auch beschrieben, dass eine einmal gefundene Outperformance umso schneller zurückgehe, je attraktiver sie zum Zeitpunkt der Entdeckung gewesen sei und je einfacher eine entsprechende Strategie in der Praxis umzusetzen sei. Kurzum: Mit der Suche nach immer neuen Alpha-Quellen werde ein Wettlauf angeheizt, der mit ebendiesen Mitteln kaum zu gewinnen sei.

Manchmal werde man auch persönlich schnell in dieser Ecke des Marktes verortet. So gehe es Christian Schmitt von ETHENEA als diplomiertem Wirtschaftsmathematiker, wie er es als Autor dieser Zeilen sei, relativ oft. Bei Vorstellungsrunden füge Schmitt daher nach der Nennung seines Hochschulabschlusses routinemäßig hinzu, dass er "zwar gut mit Zahlen umgehen könne, aber in den allermeisten quantitativ basierten Anlagestrategien mehr Risiken als Chancen verorte". Das ständige Abwägen von möglichen Chancen gegenüber potenziellen Risiken sei schließlich der Kern der Aufgabe aktiver Asset Manager. In persönlichen Gesprächen bringe Christian Schmitt von ETHENEA gerne ein exemplarisches Beispiel aus den ersten Jahren seiner Karriere ein. Es veranschauliche die Grundthematik sehr gut und habe sich seitdem unzählige Male in ähnlicher Form am Markt wiederholt und es werde sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in den nächsten Jahren bei Anlageprodukten mit dem Etikett "künstliche Intelligenz" wiederholen.

Der konkrete Name und der Anbieter dieses marktneutralen Produktes seien in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung. Der verwendete Anlageansatz und die zugrunde liegende Technik seien vor nicht ganz 20 Jahren hochmodern gewesen und mit einem Spitzenvolumen von fast 10 Mrd. EUR habe es sich auch nicht um ein Nischenprodukt gehandelt. Die Anlagestrategie habe sich stark vereinfacht als "kaufe breit diversifiziert die voraussichtlich attraktivsten Aktien im Markt und verkaufe dagegen die voraussichtlich unattraktivsten Aktien im Markt" zusammenfassen lassen. Das Marktrisiko (Beta) sei damit de facto gleich Null gewesen, man habe sich voll und ganz auf die kontinuierliche Abschöpfung von Alpha konzentrieren können. Der Start der Strategie sei phänomenal gewesen und habe eine konstant positive Performance ohne große Preisschwankungen gebracht. Was dann kurze Zeit später gefolgt sei, sei ein mehr als deutlicher Bruch mit allen Erwartungen gewesen.

Während es an der Marktoberfläche vergleichsweise ruhig zugegangen sei, habe der Fonds plötzlich Tag für Tag an Wert verloren, und zwar in einem Umfang, der der aggregierten Performance mehrerer Monate entsprochen habe. Entsetzen und Ratlosigkeit hätten sich breitgemacht. Was sei geschehen? Mit den neuen technischen Mitteln und Daten hätten viele Marktteilnehmer die Märkte daraufhin analysiert, mit welchen Aktien sich im Rückspiegel möglichst einfach und stringent Überrenditen erzielen ließen. Wenig überraschend: Da die gleichen Daten durch die gleiche Brille betrachtet worden seien, seien auch die Erkenntnisse die gleichen gewesen. Viele Anleger hätten also schlicht die gleichen Titel im Portfolio gehabt. Sobald nun Anleger in nennenswertem Umfang hätten verkaufen müssen, seien die Aktien unter Druck geraten und eine Kettenbewegung habe eingesetzt. Eine wichtige und lehrreiche Erfahrung für viele Anleger, die unter der Bezeichnung Quant Crash 2007 in die Kapitalmarktgeschichte eingegangen sei.

Der Vollständigkeit halber sei noch auf die weitere Entwicklung des Beispiels eingegangen. Ein Teil der Verluste habe in einer ersten Gegenbewegung sehr rasch wieder ausgeglichen werden können. Mit den gewonnenen Erkenntnissen sei die Strategie nochmals weiter verfeinert worden und sei sehr gut durch das Krisenjahr 2008 gekommen. Was jedoch danach gefolgt sei, sei ein stetiges Dahinsiechen gewesen, ohne jemals auch nur annähernd an die Erfolge des Backtestings oder der ersten Monate anknüpfen zu können und den angekündigten Ambitionen gerecht zu werden. Nach rund achteinhalb Jahren sei das einstige Milliardenprodukt dann in 2015 wieder vom Markt genommen worden.

Das dargestellte Beispiel sei in vielerlei Hinsicht lehr- und hilfreich. Es zeige sehr deutlich, dass das Herdenverhalten von Anlegern nicht nur auf Gesamtmarktebene, sondern auch auf Einzeltitelebene ein nicht zu unterschätzendes Risiko darstelle. Interessanterweise korreliere dieses Risiko nicht mit klassischen Risikofaktoren wie Verschuldung, Bewertung, Zyklizität, Beta und anderen. Daher sei es ungleich schwieriger, sich vor diesen als "crowded Trades" bezeichneten Positionen zu schützen. Während eine Diversifizierung des Portfolios grundsätzlich schütze, liege die potenzielle Gefahr hier eher in der Anlagestrategie selbst. Erhöhte Vorsicht sei daher bei besonders beliebten Anlagestrategien sowie bei neuen, innovativen Ansätzen geboten, die aufgrund frischer Backtests, neu entdeckter Alpha-Faktoren oder neuer technischer Möglichkeiten eine überdurchschnittliche Rendite versprechen und entsprechend viele Anlegergelder anziehen würden.

Neben diesen sehr kurzfristig und unmittelbar auftretenden Risiken zeige das Beispiel in der mittel- bis langfristigen Betrachtung, wie schnell attraktive Alpha-Quellen versiegen würden. Praxis und Theorie würden zeigen, dass dies weniger die Ausnahme als vielmehr die Regel sei.

Was bedeute das nun konkret für ETHENEA? Meldungen wie "ChatGPT kann Aktienkursbewegungen vorhersagen" seien durchaus interessant, würden die Experten von ETHENEA aber vor dem geschilderten Hintergrund weder in Panik noch in Euphorie verfallen lassen. Dennoch würden neue Werkzeuge wie ChatGPT die Arbeit aller Marktteilnehmer und Anleger nachhaltig verändern. So wie es zuvor Taschenrechner, Computer und das Internet getan hätten. Zu verstehen, wie dies geschehe und welche potenziellen Implikationen diese Entwicklung mit sich bringe, sei daher für die fortlaufende Einschätzung von Chancen und Risiken elementar.

Zumindest die Verstärkung eines bereits bestehenden Trends in der Finanzindustrie kristallisiere sich bereits aus dieser ersten Finanzstudie zu ChatGPT heraus: Die Fokussierung auf immer kürzere Handelsintervalle, bei denen Investitionen auf Tagessicht, die auf Schlagzeilen basieren würden, kein nennenswertes Kopfschütteln mehr hervorrufen würden. Vielleicht liege der Wert des aktiven Managements heute darin, auch den Artikel hinter der Schlagzeile zu lesen. Bleiben wir gespannt, wann dies zur offiziellen Alpha-Quelle erklärt wird!, so die Experten von ETHENEA. (Ausgabe 5 vom Mai 2023)


1https://www.bloomberg.com/news/articles/2023-04-17/chatgpt-can-decode-fed-speak-predict-stock-moves-from-headlines
2https://ssrn.com/abstract=4412788
3https://docs.google.com/spreadsheets/d/1mws1bU56ZAc8aK7Dvz696LknM0Vp4Rojc3n61q2-keY/edit?usp=sharing
4https://ssrn.com/abstract=2156623
(05.05.2023/fc/n/s)